Im Test zeigt sich, dass Watch Dogs Legion seinen Fokus auf eine riesige Sandbox verlegt und die Storyline sowie Charaktere ad acta legt. Die Entwickler bei Ubisoft mussten sich irgendwas noch Größeres einfallen lassen, nachdem Teil 1 und 2 bereits riesige Erfolge waren. Die Lösung: Jeder wird zum Superhacker – fernab jeglicher Logik. Was auf dem Papier cool klingt, wirft Fragen auf, die ich euch nun der Reihe nach beantworte und den Finger zumeist sehr tief in die Wunde presse. Kann Watch Dogs Legion überzeugen? Erfahrt es in den nachfolgenden Zeilen.
Das London der Zukunft. Die Gesellschaft ist am Rande des Zusammenbruchs und Albion, eine zwielichtige Unternehmung rund um CEO Nigel Cass, unterjocht die britische Hauptstadt. Und als dann der sogenannte Hacker/Terrorist Zero Day mehrere Bombenanschläge verursacht und all das auf DedSec schiebt, ist das Dilemma für die eigentlich so freundliche Hackergemeinschaft von Nebenan perfekt.
Und hier setzt Watch Dogs Legion an. DedSec ist inzwischen mehr oder weniger eine Splittergruppe. Nach der kurzen Intro-Sequenz, in der ein Special Agent (übergelaufen zu DedSec) offenbar nicht ganz so glimpflich davonkommt. Sein Verbleib? Unbekannt (und wird nicht gespoilert). Wer Zero Day ist? Erfahrt ihr auch erst gegen Ende des Spiels, wobei es zunehmend offensichtlicher wird, wer dahintersteckt. In der Zwischenzeit macht ihr aus Ottonormalbürgern Helden. Das geht auf Kosten der Storyline.
Watch Dogs Legion – 404 Good Story not found
Bisher klingt alles noch halbwegs okay. Das Dilemma des Spiels fängt allerdings bereits in der 20 Minuten kurzen Introsequenz an. Das Pacing ist miserabel, es gibt viel zu wenig Erklärungen – hier waren Teil 1 und 2 deutlich besser – und grundsätzlich wirkt das Geschehen inkohärent. Plötzliche Zwischensequenzen, abrupte Gameplay-Einlagen. Das Bild setzt sich allerdings fort. Die Krux von Watch Dogs Legion liegt nämlich darin, dass es keinen dedizierten Helden bzw. Heldin gibt. Das hat zur Folge, dass Dialoge aller möglichen Charaktere phrasenweise aufgenommen wurden und so mechanisch anmuten.
Stellt euch vor ihr habt gerade medienwirksam aufgedeckt, dass Albion VIPs in einem dunklen Keller unterhalb einer Mall in Nine Elms verschachert. Grund zum Feiern! Doch die beiden Charaktere, weil Ottonormalbürger, sprechen als wären sie gerade zum Kaffeetrinken hier. Begeisterung? Fehlanzeige. Watch Dogs Legion opfert Storyline, Emotionen und Dramatik der Sandbox. Selbst die Hauptmissionen leiden an dieser Problematik, sodass die echten Treiber der Storyline nicht mehr helfen, da deren Sprecher schlecht sind. Und das gilt sowohl für die englischen als auch deutschen Sprecher.
Es gibt dennoch ein Highlight. Die Mission „Inside Albion“ ist tatsächlich richtig gut in Szene gesetzt und überzeugt mit einigen sehr interessanten Gedankengängen im Spielkontext. Spoilern will ich dies nicht, doch stellt euch drauf ein, die vielleicht besten Szenen des Spiels zu erleben. Schade, dass dies eine Ausnahme unter sonst vielen Szenen bildet. Watch Dogs 1 und 2 waren hier um Klassen besser.
Watch Dogs Legion – Acht Bezirke und eine Sandbox
Halten wir fest: Story mies, Pacing schlecht, Sprecher schwach. So weit, so nicht gut. Kommen wir aber nun zu dem Teil, der das Spiel so richtig interessant macht: Die Sandbox. Nachdem ihr euch für einen von vielen möglichen Charakteren entscheiden habt, setzt euch das Spiel keinerlei Grenzen mehr. Von der allerersten Minute an, in der ihr London frei erkunden könnt, steht euch Tür und Tor offen. Watch Dogs Legion umfasst insgesamt acht sogenannte „Boroughs“, Bezirke. Darunter sind Camden, City of Westminster, City of London, Nine Elms, Lambeth, Southwark, Tower Hamlets und Islington & Hackney. Wer sich in der britischen Hauptstadt auskennt: Das ist ziemlich groß!
Alle acht Bezirke sind von Albion besetzt und es gilt nun, den Widerstand zu aktivieren. Dazu reist ihr in beliebiger Reihenfolge ins nächstbeste Örtchen und absolviert verschiedene Missionen. Diese sind allerdings vom Typus immer gleich: Sabotieren, fotografieren oder Drohnen kaltstellen. Manchmal erlaubt es sich das Spiel Abwechslung reinzubringen, wenn ihr VIPs retten oder beschützen sollt. Um die Aufgaben möglichst einfach zu gestalten, habt ihr freie Hand was die Herangehensweise angeht.
Watch Dogs Legion lebt davon, dass jeder NPC ein eigenes, simuliertes Leben führt. Jeder Charakter ist einzigartig und das ist durchweg zu spüren. Es macht sogar den großen Reiz des Spiels aus, denn was ist cooler als einen DedSec Teamkollegen auf der Straße zu erkennen? Schade nur, dass es hier keine Interaktionen gibt, wenn dies passiert – verpasste Chance, Ubisoft! Um zu rekrutieren, wählt ihr irgendwen aus und prüft seinen Status. Ist er DedSec neutral gegenüber, ist die Sache leicht. Einen Gefallen tun und fertig. Doch Albion-Mitglieder oder DedSec-Hasser benötigen den sogenannten Deep Profiler.
Watch Dogs Legion – Belangloses Upgrade-System trifft kreative Missionsgestaltung durch Spieler-Entscheidungen
Der Deep Profiler ist vermutlich auch er einzig kreative Erguss der Entwickler, was die Hacking-Tools des Spiels angeht. Während Watch Dogs 1 und 2 noch coole Ideen wie den Blackout hatten, vermisst ihr derlei Spielereihen nahezu komplett in Legion. Stattdessen habt ihr belanglose Upgrades, die es euch etwa ermöglichen zusätzliche/andere Waffen zu tragen oder upgraden Magazine und so weiter. Die Hacking-Upgrades dienen der Vereinfachung gegenüber Riot-Drohnen bzw. Geschützen – hier hätten sich die Entwickler etwas kreativer zeigen können.
Der Deep Profiler gibt euch einen haargenauen Tagesablauf der Zielperson wieder. Und ich habe mir die Mühe gemacht zu schauen, ob dies auch stimmt – ja, tut es. Jeder NPC verfolgt einen geregelten Alltag. Die Missionen, um eine beliebige Person zu DedSec zu überreden, gleichen sich mit der Zeit. Befreite Bezirke erleichtern dies, indem manche Leute sich sofort euch anschließen. Die meisten NPCs (gut 95%), haben individuelle Stärken, manche auch Schwächen wie „Plötzlicher Tod“, weil sie irgendwelche Herzkrankheiten haben.
Ein Bauarbeiter sorgt dafür, dass Bauarbeiter-Drohnen zu Hilfe kommen, die euch gemütlich durch die Stadt kutschieren – oder eben Missionen trivialisieren, wo ihr auf höhere Örtlichkeiten gelangen müsst. Ein Wechsel der Charaktere ist nämlich vor Beginn einer Mission jederzeit möglich. Wenn ihr also wisst, wie der Hase läuft, sind viele Abschnitte deutlich einfacher. Als Albion-Cop gelangt ihr problemlos in deren Basen, müsst aber trotzdem vorsichtig sein, damit die DedSec-Zugehörigkeit nicht offensichtlich wird. Immerhin: Euch sind keinerlei Grenzen gesetzt, wie ihr Missionen angeht.
Für jeden befreiten Bezirk bekommt ihr übrigens ganz besondere Charaktere, die spezielle Fähigkeiten haben. Darunter sind Hommagen an John Wick oder Agent 47, die sich sehr einzigartig spielen und ganz eigene Vorteile bieten. Andere Charaktere bieten euch Boni auf kürzere Knast-Zeiten, eine verkürzte Verarztung bei Bewusstlosigkeit, zufällige neue Kleidung oder mehr ETO (die Währung des Spiels), weil sie gute Investoren sind.
Rabiat oder Stealth oder anders?
Die einzigartigen Figuren oder eben die Bewohner Londons hängen von deren Bezirken ab. In der Umgebung und um das MI6-Gebäude findet ihr – wenig überraschend – gute Spione. In der City of London eher Investment-Spezialisten. Beim Kampfsystem haben sich die Entwickler ein paar Neuigkeiten ausgedacht. Die Cops greifen nicht sofort zur Schusswaffe und versuchen euch in erster Linie mit Schlagstock oder Fäusten dingfestzumachen. Solange ihre eure Kanone im Holster lasst und den Nahkampf probiert, seid ihr im Vorteil. Das Kampfsystem ist allerdings sehr simpel gehalten. Angriff, Griff und ausweichen. Das wars.
Die Gegnertypen sind nur wenige und lediglich die Captains sind nennenswert, da sie Hilfskräfte rufen können. Die KI ist gegenüber Teil 2 verbessert. Solange ihr nicht das Stealth-Talent habt, solltet ihr vorsichtig umgehen, da euch Schritte schnell verraten (Spione sind ideal für Infiltrationen). Ganz nett: Als Cop (gilt auch für andere Professionen) könnt ihr übrigens die Uniform wechseln, um so in tiefere Bereiche zu gelangen. Schaltet ihr Feinde aus und wollt sie verstecken, solltet ihr euch die „AR Shroud“-Technik holen, um diese unsichtbar für das nackte Auge zu machen.
Egal ob Stealth oder Rambo oder was auch immer euch einfällt – Watch Dogs Legion bietet euch die Möglichkeit dazu. Die Basis-Möglichkeiten der Vorgänger, darunter eine Spinnendrohne, Kamera-Hacks, Fahrzeuge hacken sind ebenso mit von der Partie und komplettieren das Ganze. An dieser Stelle sei erwähnt: Die Entwickler haben sich der schwammigen Fahrzeug-Steuerung angenommen, das Erlebnis aber genau gedreht. Jeder Wagen fühlt sich sehr unecht an als wäre er auf Schienen. Da bevorzuge ich doch vielmehr die Schlitterfahrt von Watch Dogs 2. Das, so will ich es auch kurz erwähnen, ist mein subjektives Gefühl. Aktives Springen ist weiterhin nicht möglich. Charakter-Progression gibt es auch nicht. So wie die Charaktere kommen, bleiben sie.
Viel zu tun, viel zu sehen
Watch Dogs Legion bietet euch eine riesige Menge an Individualisierungs-Möglichkeiten. Die Entwickler sprechen von 5x so vielen Optionen wie noch in Teil 2 – immens. Das dazu notwendige Geld ist jedoch leicht zu kriegen. Hackt einfach Geldautomaten, Safes in den Albion-Zonen oder übt euch als Postbotenfahrer. An sogenannten Parcel Fox Delivery Stations könnt ihr kleine Missionen annehmen, wo ihr Pakete in einem Zeit- oder Zustands-Limit ans Ziel bringen müsst. Daneben gibt es kleinere Nebenaktivitäten wie Kick-up, Darts, Arenen und mehr.
Darüber hinaus bieten es euch die oben genannten Investor-basierten Charaktere den Vorteil, dass ihr noch mehr ETO bekommt durch alle zuvor genannten Aktivitäten. Wer es wirklich riskant mag, holt sich Glücksspieler ins Team, die hin und wieder eine bestimmte Menge an Geld verspielen (erfolgreich sowie wenig erfolgreich). Ihr könnt euch besaufen gehen oder einfach den Leuten dabei zuschauen, wie sie ihrem Alltag nachgehen. London wirkt ungemein lebendig, wenngleich mir San Francisco aus Teil 2 persönlich einen Zacken besser gefiel.
Falls ihr unbedingt ein Kleidungsstück sofort haben möchtet und nicht warten wollt, gibt es Mikrotransaktionen für ETO. Sind diese notwendig? Freilich nicht. Vielmehr nervt die Tatsache, dass ihr durch echtes Geld schneller an besondere Charaktere kommt, was den Spielverlauf durchaus trivialisiert. Dadurch, dass dies optional ist, führt es allerdings nicht zum Punktabzug in der Endnote. Schlimmer ist da meiner Meinung nach, dass die Story von Aiden Pearce aus Teil 1 ausschließlich im DLC fortgesetzt wird. Wenn die Hauptstory etwas vermissen lässt, dann eben Gewicht – mit Aiden hätte es das gegeben, sofern sein Part denn auch vernünftig erklärt wird.
Watch Dogs Legion – Generationenkonflikt
Getestet habe ich Watch Dogs Legion auf einer PS4 Pro und das Ergebnis ist nur wenig berauschend. Im Vergleich zu Watch Dogs 2 gibt es kaum bzw. nur marginale Verbesserungen. Tatsächlich wirkt das Spiel aufgrund des sehr futuristischen Looks oftmals zu klinisch und blass im Vergleich zum sonnigen San Francisco. Ständig hatte ich den Gedanken, dass das Spiel auf einer PS5 bzw. Xbox Series X um Längen besser aussehen wird – nicht nur im Bezug auf Ladezeiten, die auf der PS4 Pro miserabel sind, sondern auch im Bezug auf die Qualität.
Gebäude wirken nämlich platt und lassen jegliches Gefühl von Dimension vermissen es sei denn sie sind ohnehin riesig. Es hat den Look and Feel einer Miniatur, was schlicht an der Ausleuchtung liegt, die ohne Ray Tracing (Spiegelungen und Schattenwürfe) auskommt. Der Vorgänger hatte dies bedeutend besser gelöst. Stattdessen setzt man auf PS4 Pro (und somit auch Xbox One X) auf bewährte SSR (Screen Space Reflections), die nett aussehen, aber bei physikalischen Objekten eben zur besagten Plattheit führen, wenn nicht mehrere Beleuchtungsquellen eingebunden sind.
Weiterhin sind die Charakter-Modelle schwach, was eben daran liegt, dass jeder ein Held sein kann. Die Detailverliebtheit findet ihr allerdings auch nicht bei den Hauptfiguren von DedSec/Albion/Clans wieder. Das Niveau eines Watch Dogs 2, was Details oder gar Inszenierung angeht, erreicht Watch Dogs Legion zu keinem Zeitpunkt. Schade. Daran werden auch die PS5 und XSX nichts ändern, aber immerhin die Ausleuchtung und die Texturen werden optimiert sein. Ich hoffe auch, dass die Soundabmischung für die Next Gen besser ausfällt. Eine 5.1 Anlage bringt leider nichts, da zu viele Effekte verschluckt werden.
In einem gesonderten Artikel zur PS5-Version werden wir euch dann alle Informationen zu dieser Version mitteilen. Zum Zeitpunkt des Tests (25.10.2020) hat Sony und noch keine PS5 an europäische Medien ausgeteilt.
Hinweis zum Online-Modus
Im Gegensatz zu den beiden Vorgängern, wo das Spiel von Beginn an eine persistente Online-Welt war, gibt es dieses Feature aktuell nicht. Stattdessen plant Ubisoft am 03. Dezember 2020 ein kostenloses Update, das eine eigenständige Online-Erfahrung einführt. Von Beginn an dabei sind dann ein Free-roam Modus mit bis zu vier Spielern für spezielle Koop-Missionen. Dabei soll es auch neue Mechaniken geben. Auch ein PvP-Modus mit Spiderbot-Arenen ist geplant. Der besagte Invasions-Modus aus den Vorgängern soll zu einem noch späteren Zeitpunkt Einzug erhalten.
Wenn der Online-Modus eine substanzielle neue Erfahrung liefern sollte, berichten wir in einem gesonderten Artikel darüber.